Samstag, 16. Januar 2010

Die Ausbildung des Leibes im Kindesalter

Betrachtet man das Leben eines Neugeborenen, so wird man finden, daß dieser kleine Mensch gänzlich davon in Anspruch genommen ist, körperlich zu leben: das Atmen, das Trinken, das Verdauen und das Ausscheiden erfordern große Anstrengungen; die meiste übrige Zeit im Leben eines Säuglings wird schlafend verbracht. In dieser Periode wächst der Mensch sehr schnell, schneller als jemals wieder in seinem Leben. Er bildet also aus der Nahrung, aus der Luft, aus den Stoffen, welche er aufnimmt, seinen Körper. Gut geschützt durch die mütterliche Wärme, Zuneigung, Sorge wird all diese fremde Substanz zu der eigenen gemacht, durchlebt, gebildet.

Diese Bildung wird dadurch mitbestimmt, welcher Art die Wärme, Zuneigung und Fürsorge ist, die auf das Kind wirkt. Wenn das Umfeld - in der ersten Zeit des Lebens ist dies vor allem die Mutter - hektisch, unkonzentriert, fahrig o.a. ist, wird

dies den Leib des Kindes dort schwächen, wo Hektik seine Wirkung und seinen Ursprung hat: im rhythmischen System. Wie Rudolf Steiner ausführt:
„... In unserer heutigen Erkenntnis überschätzen wir das, was wir Vererbung nennen, gar sehr. Man redet, wenn man die Eigenschaften der Menschen im späteren Leben sieht, davon, daß er das meiste vererbt hätte auf dem Wege eben rein physischen Übertragens durch die Generationen. Wer ein wirklicher Menschenkenner ist, sieht aber, wie sich die Muskeln des Kindes herausbilden nach den Eindrücken seiner Umgebung, je nachdem wir es sanft und müde, mit Liebe, oder in sonstiger Weise behandeln, wie sich Atmung und Blutzirkulation richten nach den Gefühlen, die das Kind erlebt. Erlebt das Kind es oft, daß irgendein Mensch seiner Umgebung in Liebe sich ihm naht, so daß er aus dem instinktiven Miterleben mit dem Kinde das Tempo einschlägt, das die innere Wesenheit des Kindes fordert, so bekommt das Kind in Bezug auf die feinere Organisation einen gesunden Atmungsapparat. Fragen Sie woher die Anlagen für einen brauchbaren physischen Organismus beim erwachsenen Menschen kommen, dann schauen Sie zu der Beantwortung dieser Frage hin auf das, was auf das Kind, das ein einzig großes Sinnesorgan ist, aus der Umgebung herausgewirkt hat, was aus den Worten, was aus den Gesten, was aus dem ganzen Verhalten der Umgebung des Kindes in die Muskeln, in die Blutzirkulation, in die Atmung hineingegangen ist. Sie werden sehen, daß das Kind nicht nur ein Nachahmer ist in Bezug auf das Sprechenlernen, das ja ganz auf Nachahmung beruht -wobei es ja auch im Physischen seine Sprachorganisation erst ausgestaltet und stärkt-, sondern daß das Kind in seinem ganzen Organismus und zwar in der feineren Gliederung dieses Organismus, gerade im Physischen ein Abdruck dessen ist, was wir in seiner Umgebung vollbringen." 

Gleiches kann man sicherlich ebenso für die anderen körperlichen, seelischen und geistigen Bereiche des Menschen annehmen!

Wenn nun der kleine Mensch in den ersten Wochen nach der Geburt meistenteils annehmend, aufnehmend der Außenwelt gegenübersteht, so beginnt er doch sehr bald, reagierend sich an dieser zu beteiligen. Dieses Verhalten läßt sich etwas vereinfacht als "Lernen" bezeichnen.

Es ist leicht nachzuvollziehen, daß dieses Lernen etwas ausgesprochen menschliches darstellt (wenn wir einem diesem Verhalten ähnlichen im Tierreich begegnen, erscheint uns dies ja als Zeichen der „Menschlichkeit" des Tieres).

Andersherum können wir feststellen, daß das eigentlich tierische Element der Entwicklung der Instinkt ist. Das Aufrichten des Menschen beispielsweise ist ein Lernprozeß, welcher sehr weit von dem abhängig ist, wie die Bedingungen für dieses Lernen sind.(Vgl. Husemann/Wolf; Das Bild des Menschen als Grundlage der Heilkunst) Das Tier richtet sich auf, frisst - ist alsbald ausgestattet mit den Fähigkeiten seiner Art, ohne diese im menschlichen Sinne erlernen zu müssen.

Aber nicht nur Fähigkeiten des Körpers bildet der Mensch aus, seelische Befähigung, Charakter, Ich-Empfindung, Individualität werden ebenso lernend erworben und verfeinert. Es ist nicht ohne weiteres zu entscheiden, ob das physische Vermögen die Bildung und Ausbildung des Leibes bedingt, oder ob die Individualität des Menschlichen seine Körperlichkeit ausbildet.

Mit Sicherheit ist ein beiderseitiges Sich-Bedingen als gegeben anzusehen: ein bewußtes Wahrnehmen des mütterlichen Gesichtes ist nur mit einem gesunden Auge und einem gesunden Gehirn möglich, aber bloßes Gehirn und Auge vermögen nicht das wahrzunehmen, was hinter den Farben und Formen des Anblickes sich verbirgt: das Antlitz der Mutter.(Vgl. Kap IV, "Leib, Seele und Geist" aus der "Theosophie" von R. Steiner) Es zeigt sich an diesem Beispiel deutlich, daß eine Interaktion zwischen Innenwelt und Außenwelt dem Menschen nur durch seine Sinne möglich ist. Diese Interaktion mit der Umwelt bereichert die Innenwelt, bildet die Körperlichkeit aus und verändert die Umwelt...