Sonntag, 17. Januar 2010

Sinnesphysiologische Betrachtungen

Wie sich leicht einsehen lässt, nehmen die Sinne des Menschen die zentrale Bedeutung ein, ihm Lebens- und Handlungsfähigkeit zu geben.
Man kann also ohne Übertreibung behaupten: Erleben ist Sinneseindruck 

Zunächst erscheinen uns die fünf „klassischen Sinne": 
  • Sehen, 
  • Hören, 
  • Riechen, 
  • Schmecken 
  • Tasten. 
Betrachtet man aber beispielsweise das Tasten genauer, stellt man schnell fest, daß schon dieser Sinn universeller ausgeprägt ist, als dies zunächst den Anschein hat. Ich nehme meinen Körper durch die Tastempfindung der Haut wahr: Wärme, Kälte, Schmerz und Druck sind Selbstempfindungen, die mir eine Identifikation mit meinem Körper ermöglichen, obwohl ja diese von der Außenwelt sozusagen provoziert sind.

Ähnliche Betrachtungen ließen sich unschwer für die anderen erwähnten Sinne gleichfalls anstellen: Nimmt man alle Erfahrungsmöglichkeiten des Menschen zu einer „Sinnesorganisation" zusammen, ergeben sich zwölf Sinnesqualitäten (Vgl. Rudolf Steiners Gesamtausgabe GA 45).

Zu den üblichen, an physische Organe gebundenen Sinnen kommen so Sinne, die nicht ohne weiteres einem speziellen Organ zugeordnet werden können, aber dennoch auf der Leiblichkeit des Menschen beruhen.
Nach einer Einteilung in drei Sinnes-Gruppen sind dies:

Die unteren oder leibbezogenen Sinne:
  • Lebenssinn
  • Bewegungssinn
  • Gleichgewichtssinn
  • Tastsinn. 
Die mittleren oder umweltbezogencn Sinne: 
  • Wärmesinn
  • Geschmackssinn 
  • Geruchssinn 
  • Sehsinn. 
Die oberen oder Erkenntnissinne: 
  • Hörsinn, 
  • Wort- oder Sprachsinn 
  • Begriffs- oder Gedankensinn 
  • Ich-Sinn.

Die Sinne der ersten Gruppe

Mit den Sinnen der ersten Gruppe, den unteren Sinnen, ist der Mensch nach innen gerichtet. Befindlichkeiten des Körpers werden uns durch Tastsinn, Bewegungssinn und Gleichgewichtssinn bewusst - zu diesen drei allgemein bekannten Sinnen fügt R. Steiner den Lebenssinn hinzu. 
Bei der Geburt des Menschen sind die unteren Sinne ausgebildet und funktionstüchtig. Neuere Untersuchungen bestätigen sogar ein schon sehr frühes Funktionieren in der Fötalzeit.

Der Tastsinn oder Hautsinn vermittelt, wie oben bereits ausgeführt, eine Selbstempfindung des Körpers, speziell an der Oberfläche - nun ist aber auch innerhalb des Körpers Oberfläche empfindend ausgestattet, nur gelangen uns diese Empfindungen meist nicht so deutlich ins Tagesbewußtsein.

Der Gleichgewichtssinn ermöglicht es uns, unseren Körper in der Dimensionalität des Raumes wahrzunehmen. Das Organ dieses Sinnes liegt im Felsenbein des Schädels. Drei, in den drei Raumesebenen zueinandergestellte Bogengänge, beherbergen kleine Knochenkügelchen, deren Lage durch feine Sinneshärchen von den Nerven registriert wird. Es ist aber bei dem, was man „Gleichgewicht" nennt, zu bedenken, daß dieses auch durch das Sehen, das Tasten und auch das Hören zustande kommt.

Der Bewegungssinn ist eng mit dem Tast- und dem Gleichgewichtssinn verbunden. Dennoch bereichert er uns um eine deutlich eigenständige Wahrnehmung. Die uns durch ihn vermittelten Informationen sind die der Lage- und Formveränderung des eigenen Körpers, vor allem in Bezug auf Muskeln und Gelenke. Das Erfahren von Bewegungsqualitäten wie schnell, langsam, sicher und unsicher etc. tritt uns aber meist nicht direkt ins Bewusstsein, es dient uns im Zusammenspiel mit den anderen Sinnen und dem Willen zum Ausführen all unserer Handlungen.

Der Lebenssinn wurde von R. Steiner den oben genannten hinzugefügt. Dieser Sinn ist eine tief im Unterbewusstsein verwurzelte Wahrnehmung. Sie äußert sich in einem allgemeinen Lebensgefühl: Wohlbefinden und Unwohlsein.


Die Sinne der zweiten Gruppe 

Die Sinne der zweiten Gruppe sind auf die Umwelt des Menschen ausgerichtet. Durch sie gewinnt der Mensch Kenntnis von der äußeren Erscheinung und der inneren Qualität der Stoffe, die ihn umgeben. 
Sie sind ebenfalls mit der Geburt ausgebildet, bedürfen aber noch einer weitergehenden Ausreifung. 


Der Geschmackssinn vermittelt uns Kenntnis über die stoffliche Qualität der Welt, vor allem unserer Nahrung. Mit dem Geschmackssinn erhalten wir „Aufschluß" über die im Wasser gelösten Substanzen, d.h. wir können durch ihn Wissen von der „Chemie" des Stoffes vermittelt bekommen.

Der Geruchssinn bedarf der Luft als Träger. Auch mit ihm nehmen wir die Stofflichkeit der Welt direkt wahr, aber im Vergleich zum Geschmackssinn auf einer viel feinstofflicheren Ebene. Es ist bemerkenswert, daß die Geschmacks- und Geruchsempfindungen im allgemeinen zwar bewußt werden, aber dennoch vor allem auf das Gefühl wirken.

Der Sehsinn erscheint uns als einer der wichtigsten Sinne. Er vermittelt uns eine Fülle von Daten der äußeren Welt: Licht, Dunkelheit, Farbe, Form, Lage und Bewegung der Objekte. Durch all diese Erfahrungen bilden wir uns vornehmlich unsere Urteile über das Wesen der Dinge.

Der Wärmesinn ist ein weiterer auf die Umwelt bezogener Sinn. Er ist, ähnlich dem Tastsinn, über die Ganzheit unseres Körpers ausgebildet. Mit dem Wärmesinn nehme ich eine innere Qualität oder Eigenschaft des Objektes wahr. Außer der Differenzierung von heiß und kalt ermöglicht mir dieser Sinn jede Graduation von warm und kühl zu unterscheiden.
Einer besonderen Beachtung bedürfen die Empfindung der eigenen Körpertemperatur und die Relationsknüpfung dieser zur Außentemperatur, wie wir sie vor allem im Frösteln und Schwitzen, aber auch besonders im Fieber erleben.


Die Sinne der dritten Gruppe

Die oberen Sinne, die auch als Erkenntnissinne bezeichnet werden, öffnen dem Menschen den Zugang zum Mitmenschen. Durch sie kann der Mensch über das Innere des Anderen, über seine Gedanken, Empfindungen und seine Persönlichkeit Aufschluß erhalten. 

Der Hörsinn ist der einzige Sinn dieser Gruppe, welcher direkt über ein physiologisches Organ aufzufinden ist. Mit dem Hören nimmt der Mensch Geräusche aus seiner Umwelt wahr. Durch die Töne erfährt er etwas Wesenhaftes über die Objekte. Der Klang von Holz, Stein oder Kunststoff vermittelt uns etwas von der Qualität des Gegenstandes. Auch beim Hören von Sprache erfahren wir durch Betonung, Modulation und Klangfärbung etwas vom Wesen des Sprechers.

Der Sprachsinn der eng mit dem Gehörsinn verbunden ist, ermöglicht es uns, die Bedeutung des gehörten zu erfassen und das "Wort im Geräusch" zu erkennen. Der Sprachsinn bezieht sich natürlich auch auf geschriebene Sprache oder beim Gehörlosen auf Geste und Mimik. Die Unabhängigkeit von einem physischen Organ zeigt sich darin, daß der Spracherwerb rassenunabhängig an der Umwelt erfolgt.

Der Gedankensinn gibt dem Menschen die Möglichkeit, den hinter dem Worte stehenden „Sinn" zu erkennen, den abstrakten Gedanken, welcher mit den Worten ausgedrückt werden soll, zu verstehen. Dadurch eröffnet sich dem Menschen etwas vom Innenleben des Gegenüber.

Der Ichsinn läßt uns die im Gegenüber wirksame Ich-Wesenheit erkennen. Die als Individuation bezeichnete Ausbildung der Ichfunktion läßt sich gut in der Kindesentwicklung beobachten.




Beziehung der unteren zu den oberen Sinnen

In der oben aufgeführten Aufstellung der Sinne wird eine schrittweise Erweiterung des Kenntnishorizontes aufgezeigt. Grob deckt sich diese Reihenfolge auch mit dem entwicklungsgeschichtlichen Auftreten dieser Sinne in der Evolution. 
Bedeutsam für die Sinnesphysiologie ist die Verbindung der Sinne mit den grundlegenden Seinsbereichen des Menschen, dem Wollen, dem Fühlen und dem Denken: 


Die unteren Sinne der ersten Gruppe sind, wie oben ausgeführt, leibbezogen auf die zentralen Vitalfunktionen ausgerichtet. Sie sind mit dem Willenselement verbunden, welches markant in der Vitalität, der Lebendigkeit, eines Individuums seinen Ausdruck findet und am besten mit dem (über)Lebenswillen, dem Fortpflanzungswillen charakterisiert ist. Die Erfahrungen dieser Sinne sind vor allem Erfahrungen unseres Befindens.

Die umweltbezogenen Sinne der zweiten Gruppe zeigen eine starke Verbindung zum Gefühlsleben. Sie haben eine enge Beziehung zum seelischen Sein des Menschen. Die Erfahrungen dieser Sinne sprechen Menschen in seinem Empfinden an: Etwas schön oder hässlich finden, einen anderen Menschen „nicht riechen zu können", oder  "geschmackvoll angezogen sein"...


Die Sinne der oberen, dritten Gruppe sind in Bezug auf Erkenntnisleistung leicht dem geistigen Sein des Menschen zuzuordnen. Bemerkenswert ist, daß diese Sinne bis auf den Hörsinn keine physischen Sinne mit eigenem leiblichen Organ sind und erst im laufe der ersten Lebensjahre entwickelt werden. Die Erfahrungen dieser Sinne weist von der Empfindung (Hörsinn) bis zu Erkenntnis (Gedankensinn).


Außer einer kontinuierlichen Erweiterung des Erkenntnishorizontes durch ihre gegenseitige Ergänzung, stehen die Sinne auch in einer Beziehung der Transformation und Metamorphose der unteren in die oberen Sinne zueinander. In der folgenden Abbildung ist dies durch die horizontalen Verbindungen dargestellt:



     Die Sinne in Ihrer Beziehung zueinander und zu den Wesensgliedem



Der Gleichgewichtssinn bereitet die spätere Ausbildung der Hörwahmehmung vor. Nach A. Bauer benutzt das Gleichgewichtsorgan ein „der Mathematik vergleichbares Element". Auch im Hören, besonders im Hören von Musik, liegt ein Wahrnehmen mathematischer Gesetzmäßigkeiten.

Der Bewegungssinn bereitet die Ausbildung des Sprach-/Wortsinns vor. In der Ausbildung des Bewegungsspieles kommt, wie oben angedeutet, ein Nachahmen und ein kreatives Gestalten der nachgeahmten Elemente zusammen. Die Sprachentwicklung, welche offen zu Tage tritt, wenn die letzte Stufe des Aufrichtung erreicht ist, zeigt ein ähnliches Konzept von „passiver Resonanz" und „aktiver Komposition". Der Lebenssinn schafft die Grundlage für die gedankliche Begriffsbildung des Gedankensinns. Aus den organischen Tiefen des Bewußtseins, in denen die Organe „plastiziert" werden, vermittelt der Lebenssinn, in Phantasie und Vorstellungskräfte transzendiert, Wahrnehmungen von Befinden und Sein (Uwe Strawe). Der Tastsinn wird verwandelt im Ichsinn wirksam. In der Identifikation mit einem „inneren Selbst" zeigt sich eine erkenntnisgemäße Abgrenzung von Subjekt zu Objekt. Auch unsere Hautsinne grenzen uns von der Umwelt ab. Erst ein Bewußtsein von der Gesamtgestalt des Leibes ermöglicht es uns, ein Ich zu empfinden.