Donnerstag, 19. Oktober 2017

Osteopathie - "Quo vadis, Patrona?"

Geliebte Osteopathie,
vielleicht erinnerst Du Dich noch, es ist jetzt sicher fünfzehn Jahre her, ich habe damals in Berlin meine Naturheilpraxis eröffnet.

Drei Jahre zuvor hatte ich Dich kennengelernt. Bei einem Vortrag meines späteren Lehrers.
Dieses erste kennenlernen hat in mir das Feuer für Dich entzündet: Was ich von Dir erfuhr war in seiner Prägnanz und Klarheit ebenmäßig und schön:
  • Der Körper ist eine Einheit. Er ist immer als Ganzes an Gesundheit und Krankheit beteiligt.
  • Der Körper verfügt selbst über die Heilungskräfte derer er bedarf.
  • Struktur und Funktion sind gegenseitig miteinander verbunden.
Und mit einem verheissungsvollem Seitenblick fügtest Du hinzu:
Die osteopathische Behandlung folgt dabei diesen von Dr. Still entwickelten Prinzipien, sie ist die praktische Umsetzung derselben.
Dem konnte ich nicht widerstehen!

Hatte ich doch zuvor  die zeitgenössische "Krankenhausmedizin" während meiner Zivieldienstzeit als Pfleger und "Sani" kennengelernt, hatte ich mich zuvor bemüht die chinesische Medizin zu erlernen mit ihren wunderbaren alten Texten und ihrer komplizieren und launischen Energetik. Und nicht zuletzt mich um die herrische und idealistische, unnahbare Homöopathie.

Zuvor wäre ich Dir fast schon einmal begegnet - im Anatomieuntericht einer alten Ärztin in der Ausbildung zum Gymnastiklehrer in Loheland. Hier ging es um Formzusammenhänge, Bildungsgesten und das "inneren" Verständnis der Form von Knochen, Sehnen und Bänder zu einem "Bewegungsorganismus" aus welchem sich die "heilsame gymnastische Bewegung" würde ablesen und finden lassen - ganz im Sinne klassisch griechischer Gymnastik.

Aber, vielleicht war war ich da zu jung oder Hermes zu fern - ich liebte dich - erkannte Dich aber noch nicht!

Doch nun, im Kreuzberg (jaja: "Venio Romam iterum crucifigi.") der 90er lernte ich Dich kennen und lernte um deinetwillen die Anatomie... Anatomie... Anatomie... Knochen, Bänder, Sehnen, Gefäße Organe  - alles was ich mir in Loheland Gymnastisch erübt hatte machte nun Sinn - welche Freude!

Und ich lerne Palpieren... Palpieren und noch mehr Palpieren... Die Bewegung der Gelenke und Organe ertasten, den Puls der Flüssigkeiten spüren, die Wärme unter der Haut erkennen,  den Strom der Säfte in den Bäumen - ein neues Sinnesreich erschlossest Du mir! 

Und Du beschenktest mich damit, daß dadurch, daß ich dich  in einem Knie - einem Kopf und einem Bauch "suchte" die Schmerzen meiner Patienten sich besserten...
Die Heilung oder Linderung die sie fanden kam von dir, geliebte Osteopathie, was ich tun musste war, dich in diesem geplagtem Bein, Rumpf oder Kopf ehrlich und Aufrichtig zu suchen - Anatomie und Palpation wurden zur Liebeserklärung an Dich - osteopathische Techniken zu den Worten mit denen ich Dir versuchte meine Verehrung auszudrücken.

In dieser Zeit umgabst Du mich mit vielen Freunden und Lehrern. Ich fand viele Gleichgesinnte.
In San Diego begegnete mir mit Viola eine Lehrerin welcher ich mehr verdanke als mir die Behandlung von Kindern vermittelt zu haben - Sie öffnete mir die Augen für die spirituellen Aspekte der Osteopathie, greifbar weil von ihr gelebt!


Doch die Dinge haben sich seither verändert.
Ich schreibe Dir heute, weil ich empfinde, daß das was Du für mich bist mir heute nicht mehr im Begriff  "Osteopathie" entgegenkommt...

Denn seit geraumer Zeit fühle ich mich als Osteopath unter Osteopathen nicht mehr wohl — scheint es doch nur noch um die möglichst baldige und vollständige Eingliederung der Osteopathie in ein von Krankenkassennormen geprägtes,  staatlich dirigiertes, pathogenetisch orientierten Gesundheitssystem zu gehen!

Auch mit dieser "Akademisierung der Osteopathie" kann ich mich nicht identifizieren,    scheint es doch unter vielen Kollegen vor allem darum zu gehen «ärztegleich» am Götterhimmel in Weiss zu erstrahlen und mit Titeln wie  D.O. M.R.O.  M.Sc. päd. Ost,  G.Os.C.-GB, D.O.® aufzutrumpfen. Geht es deren Patienten wirklich besser, wenn sie von so vielen Buchstaben behandelt wurden?

Bleibt von dir in einer "Qualitätsgesicherten" und durch eine zunehmend von Machtpolitik und Ego-Tripps bestimmten  institutionelle Landschaft noch Raum für Dich als eine Osteopathie die gleichwohl Kunst, Philosophie und Wissenschaft ist?

Was wird aus deinem kleinem lebendigen Squirrel in seinem Astloch, wenn der Baum gefällt, und in Scheiben aus "Kinderosteopathie", "Sportosteopathie", demnächst vielleicht noch Dentalosteopathie oder was weis nicht was zerteilt worden ist?

Nein, meine liebe, geliebte Osteopathie in dieses Land physiotherapeutisch degradierter Realpolitik werde ich nicht Folgen!
Um die Worte Victor Hugos zu verwenden, als er sich gegen den Staatsstreich des späteren Napoléon III wendete habe ich den Entschluss gefasst, Dir als "Freie Osteopathie" treu zu bleiben  "selbst wenn nur noch einer bliebe, eben der Letzte zu sein".

Ich werde weiter lernen und ich werde weiter üben um eben diese, deine „denkenden, fühlenden, sehenden, wissenden Finger zu entwickeln" und "mich daran machen zu berühren” (Sutherland).

Jan H. Schaa